Heinz Pichler:
Könnten wir zwei Gedanken noch einmal aufgreifen?
Zum einen die „Marktreligiosität“, die in den letzten 40 Jahre als die
dominante Wirtschaftslehre verbreitet wurde und zum anderen, die
Nichtregulierung von Märkten, die dazu geführt hat, dass sich bspw.
dieses finanzkapitalistische System ungezügelt ausbreiten konnte.
Stephan Schulmeister:
Ein ganz wichtiger Punkt: Die Wirtschafts-
wissenschaften sind eine Wissenschaft, die, wenn sie sich durchsetzt
mit einem bestimmten Paradigma die Realität verändert. Ein Physiker
verändert mit seinem astronomischen Weltbild nicht den Lauf der Ge-
stirne, aber eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie, die sich durch-
setzt, verändert die Welt. Ich komme aus einer Welt, in der wir 15 Jah-
re Vollbeschäftigung in ganz Europa hatten, in der es überhaupt keine
prekären Jobs gegeben hat, es hat nur vollsozialversicherte Arbeits-
plätze gegeben. Natürlich kann ich das realisieren, denn warum soll-
ten wir heute nicht etwas schaffen können, was wir vor 40 Jahren
schaffen konnten. Aber das setzt eine Haltung zu gesellschaftlichen
Prozessen voraus, die sagt: Das Schicksal des Menschen ist der
Mensch! Das bedeutet, wir sind nicht abhängig von höheren Wesen
irgendeines Marktes und diese emanzipatorische ökonomische
Theorie war natürlich jene von John Maynard Keynes und Karl Marx,
die sozusagen daran appelliert haben, dass man etwas tun kann.
In den letzten 40 Jahren wurden, sage ich vereinfachend, die linken
Ökonomen immer mehr zu Außenseitern und – ich würde fast mei-
nen, sie haben im Gegensatz zu den Neoliberalen fast gar nichts
getan, sondern sie haben auf gut wienerisch „g`motschgert“ und
dann als die Finanzkrise kam – war keiner da der einen Gegenpol
aufzeigte, wo man eine Gegentheorie entwickeln hätte können, damit
das alles erkennbar wäre, dass der Neoliberalismus die Theorie im
Interesse des Finanzkapitals ist und nicht im Interesse der
Unternehmer. Diese haben irrtümlicherweise Anfang der 1970er-
Jahre den Neoliberalismus als ihre Ideologie übernommen, weil sie
sich damals in der Defensive sahen: Die Sozialdemokratie war im
Vormarsch, die Gewerkschaft war in der Offensive, Mitbestimmung
wurde verlangt und wenn wir schon beim Thema Demokratie sind,
Bruno Kreisky war ein wirklich sehr gut situierter, gesetzter, nicht
radikaler Politiker, aber wenn er in sonorem Ton gesagt hat: „Ich
möchte alle Bereiche der Gesellschaft mit Demokratie durchfluten“,
kann ich verstehen, das Unternehmer sich gesagt haben: „Bei mir
wird nix durchflutet“. Das ist für mich der Hintergrund der Renais-
sance des Neoliberalismus, dass in diesen Prozessen der gesell-
schaftlichen Auseinandersetzung auch die Unternehmerschaft auf
eine Theorie gesetzt hat, die ihr in der Praxis eigentlich schadete.
Politische Bildung
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