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Wir stehen also vor einem gewissen Rätsel: niemand will derzeit die

Verantwortung für die Krise übernehmen, sondern es werden Schul-

dige gesucht. Für viele sind diese ohnehin klar: Griechenland, der

überbordende Sozialstaat, das „Leben-über-die-Verhältnisse“ mit all

seinen Facetten (zu viele Früh-Pensionen, zu hohe Gesundheits-

ansprüche, zu hohe Löhne, usf.). Wer sich nicht auf diese Dumm-

heiten an Welt- und Krisenerklärung einlässt wird sehr schnell fest-

stellen, dass etwas anderes „Schuld“ hat: die Vorgänge in der Wirt-

schaft sind außer Kontrolle geraten. Und dann sind wir dem Problem

schon näher: die Vorgänge in der Wirtschaft sind außer Kontrolle der

Politik geraten. Dies darf jedoch nicht verwundern, denn es war ja

das vornehme Konzept der De-Regulierung, welches die Realpolitik

der letzten dreißig Jahre bestimmte. Das Programm der neoliberalen

Denker und Praktiker war ja von Beginn an, die Wirtschaft außer

Kontrolle der Politik (und damit außer Kontrolle der Gemeinschaft –

der polis- )zu bringen. Es war also nicht nur ein Anti-Projekt zum key-

nesianisch geprägten Wohlfahrtsstaat, es war von Beginn an auch

ein wesentlich antidemokratisch geleitetes Projekt. Die – demokra-

tisch legitimierte - Politik wurde so beeinflusst und benutzt, auf for-

maldemokratische Weise jene Zustände herzustellen, welche diesel-

be künftig hin aus dem Lenkungsprozess ausschalten würde. Die

größtmögliche „Freiheit“ von demokratisch breit abgestimmter und

dadurch legitimierter Beeinflussung und Lenkung schaffte als End-

ergebnis jene Zustände, die wir nun vor Augen haben: eine Abfolge

der beschworenen sich selbst schaffenden und regulierenden Geset-

ze des Marktes. In einem „freien“, nicht regulierten Markt aber bilden

sich jene Kräfte des Marktes am stärksten aus, die das Kräftespiel

der Konkurrenz am besten beherrschen. Nach Jahrzehnten dieses

„Kräftespiels“ walten nun jene „Märkte“, die letztlich anonym, zwar

von Vielen beeinflusst, aber nicht greifbar und vor allem nicht mehr

kontrollierbar sind. Die „invisible hand“ regiert nun mit eiserner, und

vor allem unberechenbarer Faust. Deswegen auch die Hilflosigkeit

der Politik, das Sich-gegenseitig-den-schwarzen-Peter-Zuschieben,

das verzweifelte Eindreschen auf Sündenböcke, um sich von der

eigenen Schuld rein zu waschen.

Der vorliegende Artikel versucht an Hand der sich nun aktuell in Eu-

ropa zuspitzenden Probleme aufzuzeigen, wie sehr dieser Prozess

am Beginn des Jahres 2012 bereits fortgeschritten ist. Für den Autor

ist dabei dieser Zustand keine Überraschung, er ist nur erfüllt vom

Zorn darüber, dass alles so gekommen ist, obwohl es voraussehbar

war, und die etablierte Politik darauf in einer Mischung aus Ignoranz,

Selbstfesselung und Vertretung falscher Interessen nicht darauf rea-

gierte. Dieser Artikel geht daher von der These aus, dass diese Un-

Politische Bildung

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